I. Die Redaktion unter S. Ja. Luria (das erste Redaktionskollegium)

Nach dem Tod Zebelevs beschaftigten sich in den Nachkriegsjahren mit der Redigierung und Kommentierung sowohl der alten als auch der neuen bosporanischen Inschriftenmaterialien in der LO I.I. einige einander schnell ablosende Kollektive von Wissenschaftlern. Vom Herbst 1946 bis zum Fruhjahr 1949[11] leitete die Redaktion S. Ja. Luria (1891-1964),[12] ein ausgezeichneter und erfahrener Inschriftenkenner.[13] Von seinen wenigen Mitarbeitern hat anscheinend keiner Vollzeit in der Redaktion gearbeitet. Befreiungen von anderweitigen Verpflichtungen wurden nicht erteilt. B. Nadel beschaftigte sich um 1947 mit den lateinischen Lemmata des Corpus,[14] als M. E. Sergeenko als Konsultantin fur Latein hinzugezogen wurde. A. I. Boltunova (1900-1991), Schulerin von Zebelev sowie von Luria, schloss sich der Redaktion mehr gegen Ende an.[15] Abgesehen von der logistischen Hilfe der LO I.I. wurde die Redaktion lediglich von einer technischen Mitarbeiterin unterstutzt.[16]

Auf der Ruckseite der jeweils zwei oder oft mehreren Exemplare der Fotosammlung der SPb I.I., auf denen fast immer Angaben vermerkt wurden, sind nur selten Hinweise zu den Jahren 1948 und 1949 anzutreffen. Das legt die Vermutung nahe, dass die Arbeit an der Vervollstandigung der bosporanischen Inschriftenmaterialien unter der Redaktionsleitung von Luria intensiv vorangetrieben wurde. Fur die Redaktion bestand in den ungefahr zweieinhalb Jahren ihrer Tatigkeit die Hauptaufgabe darin, Zebelevs Redigierung der auf Latein verfassten Kommentare von Latyschev fortzusetzen, diese mit den Originalen zu vergleichen und die Sammlung der fotografischen Abbildungen fur eine zukunftige Veroffentlichung zu vervollstandigen. Offensichtlich wurden schon in dieser Zeit von den Negativen aus Latyschevs und Zebelevs Fotothek fur die zu entstehende Fotosammlung teilweise wieder Aufnahmen gemacht. Boltunova bereiste zur Durchfuhrung der oben genannten Anliegen die Museen der UdSSR. Im Sommer des Jahres 1948 verglichen Luria und Boltunova 210 Texte in Kerc und Simferopol.[17]

Als Luria 1948 Illustrationen zu den bosporanischen Inschriften sammelte, initiierte er eine Wende in der damals sehr riskanten Polemik um das Chersonessische Diophantosdekret (IosPE I?352 = Syll.? 709), fur die sich insbesondere die Dokumentation des auszulegenden epigraphischen Textes als ausschlaggebend erwies. der schon in den 30er Jahren sehr politisch gefuhrten Polemik sprang die wissenschaftliche Bedeutung einer Faksimilegrundlage fur die Analyse der Dokumente und der aus ihnen – historisch manchmal sehr bedeutenden Schlussfolgerungen – geradezu in die Augen.[18]

Im Fruhjahr 1949 wurde die Redaktionsarbeit unter Lurias Leitung durch Ausschreitungen der sog. ‚kosmopolitischen’ (d. h. antisemitischen) Kampagne unterbrochen; es wurde in diesem Zusammenhang auch die Beschuldigung der "Kriecherei vor dem Westen" und des "Formalismus" laut. Trotz der bescheidenen Ausstattung seiner Redaktion wurde Luria sogar der "Verschwendung staatlicher Gelder" und fast der Sabotage bezichtigt. In der Entscheidung des Wissenschaftsrates der LO I.I. vom 14. IV. 1949 wurde festgestellt, dass die unter Lurias Leitung ausgefuhrte Arbeit zur Neuausgabe der bosporanischen Inschriften fur wissenschaftliche und politische Zwecke vollkommen ungeeignet sei. "Die gesamte Arbeit an der Ausgabe der 'Bosporanischen Inschriften' muss von neuem durchgefuhrt werden."[19] Als Luria aufgrund dieser und anderer Beschuldigungen seine Arbeit in Leningrad verlor, begannen fur ihn Jahre der Ungewissheit und Wanderungen, die zum Gluck in einer erfolgreichen akademischen Laufbahn an der Universitat Lviv endeten.


[11] An die Wiederaufnahme dieser Arbeit in der Nachkriegszeit erinnert in dem Uberblick neuerer epigraphischer Arbeiten E. M. Staerman. Das Studium der antiken Inschriften in der UdSSR. (russ.), (VDI Nr. 3 [1947], 67:"Es wird eine gro?e Ausgabe und Neuausgabe der in der UdSSR gefundenen Inschriften vorbereitet."
[12] Ja. S. Lur’e. Istorija odnoj zhizni (= Die Geschichte eines Lebens). SPb 2004, 181-185 (russ. Erstausgabe in Paris unter dem Pseudonym B. Ja. Koprziva-Lur’e 1987 erschienen). Es sind seit einigen Jahren Ubersetzungen dieses Buches ins Englische und Deutsche geplant.
[13] Als Schuler S. A. Zebelevs und M. I. Rostovcevs an der Petersburger Universitat stutzte sich Luria (ibd., 52ff.) seit 1913 – er schrieb damals eine Arbeit uber den Bootischen Bund (gedruckt 1914 in der Zeitschrift des Ministeriums fur Volksaufklarung ZMNP), fur die er eine Auszeichnung erhielt – auf Inschriftenmaterial. Als Anerkennung fur seine Errungenschaften auf diesem Gebiet kann man Lurias Zusammenarbeit in der Redaktion der internationalen Ausgabe Supplementum Epigraphicum Graecum (SEG) ansehen, deren Komitee er von 1929 bis 1937 angehorte.
[14] Vor dem Krieg studierte B. Nadel an der Universitat Vilnius. Vom August 1946 bis Dezember 1947 gehorte er der LOII als wissenschaftlich-technischer Mitarbeiter an. 1957 reiste er aus der UdSSR aus und lebte in Polen. Er meldete sich 2004 aus New York, als die Redaktion genauere Details uber die Umstande dieser Zeit von ihm erfahren wollte.
[15] Mit dieser Zusammenarbeit ist die bekannte humoristische Episode verbunden, als Boltunova in einer aufgefundenen Inschrift (spater KBN 939) den Namen einer neuen griechischen Gottin entdeckt zu haben glaubte.
[16] Dies bestatigte Benjamin Nadel in seinem Brief an den Verf. vom 21. IV. 2004 aus New York.
[17] Uber die Entstehung … , Zeile 52, Fn. 2.
[18] Uber die Entstehung ..., 202-206; A. K. Gavrilov. Die Skythen des Saumakos – Aufstand oder Invasion? // Studien zur antiken Geschichte und Kultur der Nordschwarzmeerkuste. (russ.) SPb 1992, 64 und Fn. 35, 36. (In gekurzter Form siehe: ders. Das Diophantosdekret und Strabon, in: Hyperboreus 2 (1996) 1, 151-159.

V. V. Struve stutzte sich bei seiner Rekonstruktion der S. 34 des Diophantosdekrets der Chersonesiter auf "unsere fortschrittliche [= sowjetische – A. G.] Technik," wahrend S. Ja. Luria den alten Abklatsch des Diophantosdekrets, der sich im Museum von Chersonesos (in Sewastopol) befand, der fortschrittlichen Technik vorzog.

[19] Ja. S. Luria. Die Geschichte eines Lebens. (russ.), 184.